Blind durch Cuxhaven

Wie fühlt es sich an, ohne Augenlicht die Stadt zu durchqueren?

Von Andreas Raabe

Ich war blind. Zwei Stunden lang. Wenn man blind ist, dann sieht man nichts mehr, überhaupt nichts. Das ist eine beängstigende Situation. Stellen Sie sich vor, Sie gehen mit geschlossenen Augen eine Treppe ohne Geländer hinunter, dann wissen Sie, was ich meine.

Zum Glück währte dieser Zustand nicht sehr lange und bei Panik oder Nichtgefallen hätte ich meine Blindheit schnell beenden können. Ich hätte bloß die große Augenklappe abnehmen müssen. Die hatten mir Dieter Intemann und Sabine Zachlehner gegeben. Die beiden sind wirklich blind, ohne Augenklappe, für immer.

Früher konnten sie sehen. Bei Zachlehner war die Erblindung ein langsamer Prozess, bei Dieter Intemann kam sie sehr plötzlich, in seinen besten Jahren. Intemann und Zachlehner haben mich eingeladen auf einen Spaziergang durch Cuxhaven, bei dem ich nichts sehen werde. Eine dunkle Expedition über Straßen, durch die Fußgängerzone, über Plätze und mitten hinein in die vielen Fallen, die sich selbst einem erfahrenen Blindenstockgänger in den Weg stellen.

Jetzt musst du erst mal zum Arzt“

Doch bevor es losgeht, erzählt Dieter Intemann die Geschichte, wie er innerhalb von drei Stunden blind wurde. Als er an einem Morgen vor fünf Jahren aufwachte, war die Welt noch in Ordnung. Der erfolgreiche Architekt aus Verden war gerade auf dem Weg ins Büro, als ihm schwindelig wurde. „Ich habe Sterne gesehen, alles verschwamm ganz plötzlich. Ich habe noch gedacht: Jetzt musst du erst mal zum Arzt“, erinnert sich Intemann. Drei Stunden später war er blind.

Die Ursache ist bis heute ein Rätsel. Intemann vermutet, dass eine Infektion nach einem Zeckenbiss Auslöser gewesen sein könnte. Mit zitternder Stimme berichtet er davon, wie im Wartezimmer des Arztes sein Sehvermögen schwand und er von starken Schwindelanfällen geplagt wurde. Schließlich rief jemand den Notarzt, er kam ins Krankenhaus. Dort war man zunächst ratlos, erst in der Nacht untersuchte ihn ein Augenarzt und stellte eine Schädigung des Sehnervs fest. Da war es schon zu spät. Nur ein winziger Rest des Sehvermögens auf dem rechten Auge konnte gerettet werden. „Am schlimmsten sind nach so einem Schlag die seelischen Folgen“, sagt Intemann.

Viele Leute ziehen sich zurück, sind völlig zerstört und haben Angst, auf die Straße zu gehen. „Bei mir war es auch sehr schwer am Anfang. Von über 200 Freunden sind mir nur zwei geblieben. Mit meinem Beruf war es vorbei, was natürlich auch finanzielle Folgen hatte.“ Inzwischen hat Intemann gelernt, mit seiner Behinderung zu leben. Er sei halt ein Stehaufmännchen, sagt er. Jetzt ist Dieter Intemann Vorsitzender des Regionalverbandes Elbe-Weser im Blinden- und Sehbehindertenverband. Er hilft anderen, auch ohne Augenlicht ein erfülltes Leben zu führen.

Angst vor dem Sattelschlepper

Nun wird es ernst. Wir stehen in der Bahnhofshalle und ich setze die Augenklappe auf. Die Welt wird schwarz. Intemann hat einen Blindenstock für mich mitgebracht. „Das ist mein Sonntagsstock, mit Holzgriff und in ganz besonders luxuriöser Ausführung“, sagt er. Ich freue mich sehr, fühle mich sogar geehrt und schaue runter auf den schönen Stock. Aber ich sehe ihn nicht, ich bin ja blind. Da muss man sich erst mal dran gewöhnen.

Jedoch – viel Zeit bleibt mir nicht. Dieter Intemann greift meinen Arm und geht los. Ziemlich schnell, wie ich finde. Da hinten müsste doch irgendwo die Tür sein, oder? Und hinter der Tür sind Treppen und dahinter wartet eine Bundesstraße, auf der völlig rücksichtlose Autofahrer rasen! Wie konnte ich nur auf die verrückte Idee kommen, mir die Augen verbinden zu lassen und ausgerechnet mit zwei Blinden quer durch die Stadt zu marschieren? Was, wenn ich verloren gehe? Was, wenn meine blinden Führer denken, ich stünde neben ihnen, während ich in Wahrheit mitten auf der Straße vor einem herandonnernden Sattelschlepper umhertappe?

Doch Dieter Intemann und Sabine Zachlehner sind an meiner Seite. Mit erstaunlicher Geschwindigkeit gehen wir aus dem Bahnhof, meistern die Treppen („unbedingt das Geländer benutzen!“) und suchen die Ampel Richtung Große Hardewiek. Eigentlich sollten die Klopfgeräusche der Blindenampel die Richtung weisen, doch bei all dem Verkehr höre ich sie nicht. Mit ein wenig Hilfe finde ich die Ampel schließlich, gehe beim Signalton los. Ich lasse den Stock leicht über dem Boden hin und her pendeln. Man soll nicht zu weit schwingen, rät Intemann, getroffene Passanten könnten einem die Stockschläge übel nehmen.

Kann man ein Haus hören?

An der Ecke Segelckestraße gibt es die erste ungeregelte Begegnung mit einem Auto. Ich höre ein Brummen von links, dann quietscht eine Bremse ganz leise, das Auto hält. Ich bleibe stehen. Keine zehn Pferde bekommen mich über die Straße, solange dieses lauernde motorisierte Ungetüm da steht. Auch der Autofahrer scheint verunsichert zu sein. Schließlich fährt er vorbei. Wir können unseren Weg fortsetzen. Ich wedele fröhlich mit meinen Blindenstock und fange langsam an, intensiv zu horchen.

Man kann tatsächlich hören, ob man neben einem Haus oder neben einer freien Fläche steht. Wie stark wir Sehenden doch nach vorne ausgerichtet sind! Muss man sich auf Gehör und Tastsinn verlassen, liegt das Gesichtsfeld plötzlich links und rechts und unter den Schuhen.
Es wird einem nicht einfach gemacht als Blindem, das zeigt sich in der Fußgängerzone. Hier gibt es zwar keinen Autoverkehr, dafür lauern andere Gefahren. Ein Fahrradständer zum Beispiel, Werbeaufsteller oder eine Telefonzelle, die nur auf einem dünnen Fuß steht. Man kann diese Hindernisse mit dem Blindenstock kaum ertasten. „Blaue Flecken bleiben nicht aus“, sagt Intemann. „Aber man kann sich auch nicht zu Hause verkriechen.“

Erstaunlich schnell stellt sich eine kleine Sicherheit ein – solange ich den Bordstein als Orientierung habe und keine unerwarteten Hindernisse, wie falsch geparkte Autos, den Weg versperren. Doch ohne meine Blindenführer wäre ich wohl verloren. Das Experiment ist jetzt vorbei. Ich ziehe meine Augenklappe ab und lasse mich blenden vom Tageslicht. Gutes altes Tageslicht.

Andreas Raabe

erschienen in den Cuxhavener Nachrichten vom 21.März 2009

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