Titelgeschichte kreuzer 01.10
Das Pressesystem der DDR war eine Herrschaftsstruktur. Westdeutsche Großverlage setzten sich Anfang der 1990er Jahre vielerorts ins gemachte Nest. Bis heute herrschen sie über Zeitungen mit sehr hohen Auflagen und enormen Marktanteilen. Doch auch die Leser haben Anteil an der Entwicklung hin zur Monopolisierung der öffentlichen Meinung im Osten der Republik.
Von Andreas Raabe
Vor 20 Jahren, da stand ein Volk auf. Die Menschen gingen auf die Straße, wollten teilhaben und sie hielten zusammen, egal wie gefährlich es war und wie kalt im Leipziger Herbst von 1989. Im städtischen SED-Bezirksblatt, der Leipziger Volkszeitung, konnten sie lesen, wie der Kampfgruppenkommandeur Günter Lutz drohte, »diese konterrevolutionären Aktionen endgültig zu unterbinden. Wenn es sein muss, mit der Waffe in der Hand!«
Jeder wusste, was drei Monate zuvor auf dem Platz des himmlischen Friedens passiert war. Doch die Leute zogen ihre Anoraks an, gingen los und dachten: Soll er doch kommen, dieser Lutz. Bewaffnet nur mit einer Kerze in der Hand trotzten die Menschen der Drohung des Regimes. Und das Regime fiel. Die Leute waren glücklich, gingen nach Hause und setzten sich in ihre Sessel. Einmal standen sie noch auf. Mit gigantischen 93 Prozent Wahlbeteiligung bestimmten sie im Frühling 1990 die erste frei gewählte Volkskammer.
Ihre Helden aus dem Herbst hatten sie da schon vergessen. Das Bündnis 90, ein Zusammenschluss der DDR-Bürgerrechtler, erhielt nur 2,9 Prozent der Stimmen. Was waren schon die Worte von Christa Wolf gegen die Versprechen der D-Mark? Die Menschen wählten den kleinen Ostvertreter eines großen Pfälzers, was auf dasselbe hinauslief. Kohl und de Maizière werden das schon machen, dachten sie.
Während das Volk seine Wahl schon getroffen hatte, brach in der DDR-Presselandschaft ein Sturm los. Landauf, landab schossen Anfang 1990 neue Zeitungen und Zeitschriften aus dem Boden, meist von Bürgerrechtlern gegründet, manchmal auch von Glücksrittern, die mit buntem Boulevard das große Geld machen wollten. Über 80 Neugründungen gab es in Ostdeutschland nach dem Herbst 89. Die Zeitungen der Blockparteien – vorher unter der strengen Fuchtel des DDR-Presseamtes – brachten Enthüllungsstorys über geheime Waffenlager, Bonzen-Luxus, gefälschte Artikel im Neuen Deutschland und Stasi-Machenschaften. Das Presseamt der DDR fiel in Schockstarre. Die Tage der 15 mächtigen SED-Bezirkszeitungen schienen gezählt.
»Mit tödlicher Sicherheit«, schrieb im Januar 1990 Joachim Freese, stellvertretender Chefredakteur des Rostocker Ost-CDU-Blattes Demokrat, »gibt’s in einem halben Jahr keine Parteizeitung mehr.« Freese hatte sich geirrt, und zwar gewaltig. Denn heute beherrschen die ehemaligen SED-Bezirkszeitungen noch immer den Markt auf dem Gebiet der ehemaligen DDR. Sie sind diejenigen, die überlebt haben. Zwar machen sie jetzt einen anderen Journalismus. Die Strukturen auf dem Zeitungsmarkt blieben aber weitgehend erhalten. Die aufmüpfigen Zeitungen der Blockparteien und all die Neugründungen starben. Als Treppenwitz der Geschichte gibt es eine Ausnahme, um die Regel zu bestätigen: die Thüringische Landeszeitung aus Weimar. Sie ist die einzige eigenständige Tageszeitung in Ostdeutschland, die nicht einem Organ der SED entsprungen ist.
Kampf um die Heldenstadt
Im Jahr 1989 gab es in Leipzig vier Tageszeitungen mit einer eigenen Lokalausgabe: das SED-Blatt Leipziger Volkszeitung (LVZ), das Sächsische Tageblatt der Liberal-Demokratischen Partei Deutschlands (LDPD), Die Union, Zeitung der Ost-CDU, und die Mitteldeutschen Neuesten Nachrichten, Organ der National-Demokratischen Partei Deutschlands (NDPD). »Die Auflagen der Blockparteien-Zeitungen waren gedeckelt«, sagt Siegfried Stadler, bis 1991 Politik- und Kulturredakteur beim Sächsischen Tageblatt in Leipzig. »Wir hatten eine Auflage von etwa 60.000 Exemplaren«, erzählt Stadler. »Das war vom Staat gesteuert und lief ganz einfach über die Zuteilung von Papier.« Die Leipziger Volkszeitung dagegen war auch im Umland mit Lokalredaktionen vertreten und ihre Auflage lag bei 400.000 Exemplaren. Außerdem gehörte die einzige Zeitungs-Druckerei in der Stadt, die Hermann-Duncker-Druckerei, zur LVZ.
Nachdem sich die PDS-Holding Zentrag entschlossen hatte, die Parteizeitungen in Volkseigentum übergehen zu lassen, lag ihr Verkauf in den Händen der Treuhandanstalt. Die Zeitungen der Blockparteien dagegen wurden meist von den Parteien selbst veräußert. Schnell war klar, dass besonders die auflagenstarken SED-Bezirkszeitungen sehr begehrt waren bei Investoren aus dem Westen Deutschlands.
Der Grund dafür war ihre Marktmacht. Die kam nicht von ungefähr, sondern war von der DDR-Führung ganz bewusst geschaffen worden, und zwar als ein zentrales Element der Sicherung von Macht. »Unsere Presse – die schärfste Waffe der Partei«, lautet ein geflügeltes Wort des Genossen Lenin, das auch die SED benutzte. Dementsprechend hatte sie die Pressestrukturen im Arbeiter-und-Bauern-Staat aufgebaut – als Machtinstrumente. Kein Wunder, dass sich die großen Westverlage nach der Wende geradezu rissen um die SED-Bezirkszeitungen. Bestand doch die verlockende Chance, die schärfste Waffe der Partei in die schärfste Waffe des Profits zu überführen.
Bedenklich ist aber nicht nur die Vergangenheit der Zeitungen. Durch den Erhalt der Strukturen wurde eine Form von Pressekonzentration in Ostdeutschland zementiert, die sich aufgrund marktwirtschaftlicher Verdrängungsprozesse schnell verschärfte – und der Grund dafür ist, dass es nicht nur im Osten, aber vor allem dort, in weiten Landstrichen um die Medienvielfalt nicht sonderlich gut bestellt ist. »Man hätte eine Kommission einsetzen können, die beim Verkauf darauf achtet, dass eine Struktur entsteht, die Meinungsvielfalt sichern kann«, sagt der Leipziger Journalistik-Professor Michael Haller. »Die Treuhand hat ihre Rolle so aber nicht verstanden.« Mit seinen Mitarbeitern und Studenten hat Haller Mitte der neunziger Jahre den »Medienwandel in Ostdeutschland« ausführlich untersucht. »Das Versäumnis liegt ganz klar bei der Politik«, meint Haller. »Man kann da aber niemandem eine böse Absicht unterstellen, das war einfach naiv. Viele glaubten noch 1991, da kommen neue Verleger, es entstehen neue Zeitungen, die das neue Denken verkörpern, und alle wollen das lesen. Das waren radikal falsche Einschätzungen.«
Nachdem klar war, dass die Treuhand verantwortlich für die Veräußerung der Verlage sein würde, wurde die Investmentbank J.P. Morgan hinzugezogen, um mit ihrer Hilfe die Zeitungen möglichst schnell zu verkaufen. Die LVZ wählte unterdessen einen neuen Chefredakteur, gründete eine GmbH und ging ein lockeres Bündnis mit der Madsack-Verlagsgesellschaft, einem Medienkonzern aus Hannover, ein. Auch die Axel Springer AG hatte ein Auge auf den Leipziger Zeitungsmarkt geworfen und erwarb nach und nach die Anteile am Sächsischen Tageblatt.
Langsam wurde klar, dass die Blockpartei-Zeitungen den auflagenstarken SED-Blättern wirtschaftlich kaum etwas entgegenzusetzen hatten. Nun interessierte sich Springer auch für Anteile an der LVZ. Am 15. April 1991 gab die Treuhand ihre Entscheidung bekannt: Springer und Madsack erhielten je 50 Prozent der Anteile an der Leipziger Verlags- und Druckereigesellschaft, zu der neben der LVZ auch die örtliche Hermann-Duncker- Druckerei gehörte.
Währenddessen konnte das Sächsische Tageblatt, Springers kleine Zeitung in Leipzig, seine Auflage mit 81.000 Exemplaren zunächst deutlich steigern, im Verlauf des Jahres 1991 brach sie aber ein. »Ein Grund dafür war sicher der relativ hohe Verkaufspreis von 50 Pfennigen«, sagt Ex-Tageblatt-Redakteur Stadler. Aber er vermutet auch inhaltliche Gründe für den Leserschwund: »Bei uns gab es – anders als bei der LVZ – nicht so eine Ostalgiehaltung. Alles, was mit der DDR zusammenhing, haben wir kritisch gesehen und wollten eher Optimismus verbreiten. Das war in der Zeit der Massenentlassungen natürlich tödlich«, meint Stadler und gibt zu: »Wir haben wohl an der Volksseele vorbeigeschrieben damals. Am Ende waren wir in der Optimismusfalle, in der früher immer die LVZ gesteckt hat.«
Die Leipziger Sieben
Der Springerverlag, dem immer viel an der Volksseele lag, war nun mit einem lukrativen Anteil am Platzhirsch LVZ versorgt. Im September 1991 stellte er das Tageblatt ein. Als Grund wurden kartellrechtliche Zwänge angegeben – aber natürlich ist eine auflagenstarke Zeitung pro Stadt für einen Verlag lukrativer als der Besitz des lokalen Underdogs. »Wir hatten ein ganz einfaches Erfolgsrezept«, sagt Hartwig Hochstein, LVZ-Chefredakteur von 1991 bis 2003: »Die Zeitung hat sich geändert, aber nur in so einem Maße, dass sie den Leuten vorangegangen und nicht weggelaufen ist. Sie war in diesen sich wild verändernden Zeiten ein Element der Kontinuität, darauf habe ich von Anfang an geachtet.« Große Ratgeberteile, die Betonung des Lokalen, Lebenshilfe anbieten und »ein wenig das Selbstbewusstsein stärken«, so konnte laut Hochstein die LVZ die Lesergunst gewinnen.
Nebenbei brannte auf dem Leipziger Zeitungsmarkt das Strohfeuer der Neugründungen und Markteroberungsversuche ab. Es ging turbulent zu: Als Erstes machten die Mitteldeutschen Neuesten Nachrichten zu und warben ihre Leser für den Express (später Neue Presse–Express, Mitteldeutscher Express), eine von den Verlagen DuMont und Madsack für Mitteldeutschland konzipierte Boulevardzeitung. Der Express hielt bis 1995 durch und wurde dann eingestellt. Die Hannoversche Allgemeine Zeitung brachte eine Lokalausgabe Leipzig auf den Markt, die mit der Übernahme der LVZ durch Madsack wieder verschwand.
Gruner + Jahr versuchte, eine Leipziger Morgenpost zu etablieren und scheiterte. Es gab den spektakulären Auftritt eines 30-jährigen Niedersachsen namens Mathias Finck und seiner Neugründung Wir in Leipzig (WiL). Mit eigener Drucktechnik, einer Vollredaktion und einem Mix aus boulevardeskem Erscheinungsbild und seriösem Journalismus mischte die täglich erscheinende WiL den Leipziger Zeitungsmarkt auf. Ende 1991 brach sie nach irrwitzigen Expansionsversuchen zusammen. Jungverleger Finck setzte sich in die Schweiz ab, hinterließ Schulden in Millionenhöhe und mehr als 150 arbeitslose Redakteure und Verlagsmitarbeiter.
Und noch eine weitere Zeitung sorgte mit frischem Journalismus überregional für Furore: Die Leipziger Andere Zeitung (DAZ). Das Wochenblatt scheiterte letztlich an den Finanzen. Aus der DAZ-Kulturbeilage ging übrigens der kreuzer hervor.
Es gab eine Zeit in den beiden Nachwendejahren, da erschienen in Leipzig sieben lokale Tageszeitungen: Sächsisches Tageblatt, Die Union, Wir in Leipzig, die Leipziger Morgenpost, Express, die Bild und die LVZ. Bereits Mitte der 90er Jahre existierten nur noch die LVZ und die Bild mit zwei Leipzig-Seiten. »Eine richtige Presselandschaft in Leipzig gibt es heute nicht mehr«, resümiert der langjährige FAZ-Redakteur Stadler. Das sei besonders tragisch für die intellektuelle Szene in der Stadt. »Selbst zu DDR-Zeiten hatte man in den Kulturteilen der Zeitungen manchmal drei oder vier verschiedene Meinungen zu einem neuen Theaterstück oder einem Konzert. Heute macht – zumindest im aktuellen Geschäft – die LVZ das allein.«
Selbst der langjährige LVZ-Chef Hochstein kann der Situation von damals Negatives abgewinnen: »Schön ist es für einen Chefredakteur nicht, keine Konkurrenz zu haben. Ich konnte meiner Redaktion nicht sagen: Warum haben wir diese Geschichte jetzt nicht, oder warum ist unsere Sichtweise so komisch?«
In Diskussionen damals, erzählt Hochstein, habe er gerne »halb humoristisch« gesagt: »Dass es nur eine Zeitung in der Stadt gibt, bedaure ich als Journalist zutiefst. Aber als auch fürs Kaufmännische Mitverantwortlicher werde ich alles tun, damit es so bleibt.« Zeitungmachen ist eben auch ein Geschäft. Hochstein: »Natürlich haben wir unseren Startvorteil genutzt und nicht verspielt.«
Einmal Abo – immer Abo
Ein Tageszeitungs-Abo ist ungefähr so, als würde jeden Tag ein Laib Brot geliefert, von dem man nur zwei Scheiben isst und den Rest in den Müll wirft – der Traum jedes Bäckers. Für die Verleger in Deutschland war er lange Zeit Wirklichkeit. Der extrem hohe Anteil an Abonnement-Zeitungen ist eine deutsche Besonderheit. 70 Prozent aller Tageszeitungen werden hierzulande über Abos verkauft. Die LVZ hat sogar einen Abo-Anteil von 91 Prozent. Ungefähr genauso hoch ist ihr Marktanteil: 93 Prozent aller im Verbreitungsgebiet verkauften Tageszeitungen werden von dem Verlag im Peterssteinweg herausgegeben. Die übrigen sieben Prozent Marktanteil belegt fast komplett die Bild. Das ist besonders pikant, besaß doch der Springer-Verlag bis Februar 2009 auch 50 Prozent der Anteile am LVZ-Verlag, der nun Madsack allein gehört.
Inzwischen zieht sich Springer aus dem Geschäft mit lokalen Tageszeitungen zurück – die Zeit der großen Profite in diesem Markt ist wohl vorbei. Dabei waren gerade die lokalen Tageszeitungen jahrzehntelang echte Gelddruckmaschinen. Vielerorts gibt es Monopolisten, die kaum Konkurrenz auf dem Anzeigenmarkt zu befürchten haben. Kombiniert mit der Fixierung der Leser auf das Abonnement bot sich ein glänzendes Geschäftsfeld.
Das Lokalzeitungsabo erfüllt Bedürfnisse nach Stabilität, Kontinuität und nach regionaler Eigenständigkeit. Die Lokalzeitung ist eben »Eine für uns«. Wichtig sind auch so scheinbar nebensächliche Fragen wie »Wer hat die Todesanzeigen?« Sogenannte Familienanzeigen gab es traditionell nur in der LVZ, keine der alten Blockparteien-Blätter oder der Neugründungen hatte sie – ein entscheidender Nachteil in der Lesergunst. »Man darf auch nicht vergessen, dass die LVZ vor der Wende – abgesehen vom politischen – schon informativen Lokaljournalismus gemacht hat«, sagt Kommunikations-Professor Hans-Jörg Stiehler von der Universität Leipzig. Die Zeitung habe es zudem sehr schnell geschafft, den Führungswechsel in der Chefredaktion für die Leser glaubwürdig zu vertreten. »Außerdem haben die Leute ihre Abonnements ausgedünnt«, sagt Stiehler. Eine Zeitung kostete zu DDR-Zeiten 10 bis 15 Pfennig und hatte sechs bis acht Seiten. Viele hatten drei oder mehr Abos.
Dann wurden die Zeitungen teurer. Also kündigte man unnötige Abos. Übrig blieb das, was die Menschen am wichtigsten fanden, und das war das offizielle Verkündigungsblatt von früher. Es war der Glaube an Institutionen und die Furcht, ohne sie und ihre Unterstützung hilflos und allein zu sein, die erklären, warum sich die Menschen in Leipzig, wie im Rest Ostdeutschlands, nicht von den ehemaligen Staatsorganen abwandten. Medienwissenschaftler Haller drückt es philosophisch aus: »Man will ja seine Behaustheit behalten, man will doch kein verlorenes Kind in dieser Welt sein – wer will das schon?« Der Rest ist Kapitalismus.
Organisation etwa 2,3 Millionen Mitglieder, entsprechend etwa 80 Prozent aller DDR-Jugendlichen zwischen 14 und 25 Jahren. Die meisten Jugendlichen beendeten ihre FDJ-Mitgliedschaft nach dem Abschluss von Lehre oder Studium stillschweigend mit dem Eintritt ins Erwerbsleben.