Der Chemiker und die Orgel

erschienen im Porträtband Engagierte in Brandenburg der Staatskanzlei Brandenburg

Von Andreas Raabe

Es ist kalt an diesem Januartag in der Uckermark. Saukalt. Minus zehn Grad, hat der Wetterbericht gesagt. Und dann dieser Ostwind. Scharf pfeift er durch die Türen am Bahnhof von Angermünde. Links und rechts in der sitzbanklosen Bahnhofshalle albern Jugendliche umher. Ein Mann mit Vokuhila-Frisur und bunter Lederjacke zieht sich am Automaten eine Fahrkarte. In dem kleinen Laden, der viel zu modern für diesen abgewirtschafteten Bahnhof aussieht, gibt es Bockwurst, Bier und Zeitungen zu kaufen. Es ist aber keiner da, der etwas kauft. Der Platz vor dem Bahnhof ist wie leergefegt, niemand zu sehen und das an einem Freitagvormittag. Nur ein Bus mit Busfahrer und der Wind sind da. Die Uckermark ist die am dünnsten besiedelte Region in Deutschland.

Mit dem Bus geht es raus aufs Dorf, nach Felchow, vorbei an einsamen Haltestellen und Feldern aus gefrorener Erde. Autos überholen den Bus, einige fahren viel zu schnell. Felchow liegt genau in der Mitte zwischen Angermünde und Schwedt. Fünf Kilometer weiter ist die polnische Grenze. Zwei Mädchen in dicken Anoraks, 14 Jahre alt vielleicht, sitzen im Bus und unterhalten sich über ihre Fahrt nach Polen. Zum Einkaufen wollen sie hinüber, erzählen sie. Und es hört sich an wie ein großes Abenteuer.

Haltestelle Felchow. In dem Dorf leben etwa 300 Menschen. Es gibt eine kleine, alte Kirche, ein Gutshaus mit Teich und an der Dorfstraße ein Haus aus roten Ziegeln. Da wohnt Dietrich Pavel. Im Garten steht eine kleine Windmühle, die Haustür hat Fenster aus braunem Glas, die Klingel macht Ding-Dong – ein netter Herr mit weißem Haar öffnet und sagt freundlich: „Kommen Sie rein, bei uns ist’s warm.“ Dietrich Pavel trägt Hemd, Pullunder und eine graue Stoffhose mit Bügelfalte. Sehr ordentlich sieht er aus. Die Füße stecken in flauschigen Puschen. Er schließt die Tür, rückt seine Brille zurecht und bittet ins Wohnzimmer. Dort stehen ein ovaler Tisch mit einer roten Strickdecke und dahinter ein großes Regal, vollgestopft mit Büchern, Bildern und allerlei Krimskrams. „Kaffee?“, fragt er. Ja, bitte.

Geboren wurde Dietrich Pavel in Schlesien. Und zwar am 24. Dezember 1934. Ein Weihnachtskind! Er ist das jüngste von drei Geschwistern, der Vater, ein Arzt, starb als Dietrich erst zwei Jahre alt war. Mit der Mutter und den beiden Schwestern floh er am Ende des Weltkrieges nach Weimar. Dort machte er sein Abitur und studierte in Dresden. Doktor der Chemie wurde er. In den 60er Jahren zog er nach Schwedt. „In eine Neubauwohnung mit Fernheizung und fließend warmem Wasser, die Toilette nicht auf dem Hof“ erinnert sich Dietrich Pavel und muss lachen, wegen der Toilette wahrscheinlich. Es war wohl eine schöne Zeit damals.

Frau Pavel kommt mit einem Tablett in den Händen um die Ecke. Darauf stehen drei große, dicke Tassen aus denen es dampft. Stark und in der Tasse gebrüht – türkisch – so trinkt man den Kaffee hier. Was ist die sinnloseste Erfindung der Welt? Genau, die Kaffeemaschine.

Bis 1991 arbeitete Dietrich Pavel im Petrolchemischen Kombinat Schwedt. Zuletzt war er dort Hauptforschungsleiter. „Dann kam die Wende, die gesamte Forschung wurde plattgemacht und ich zwangsverrentet“, sagt er. Und spricht das Wort „zwangsverrentet“ gedehnt und mit einer ganz bestimmten Betonung aus – so als wäre es die größte Beleidigung seines Lebens gewesen. Dietrich Pavel war damals 56 Jahre alt und er fand keinen neuen Job. „Ganz Deutschland wurde mit arbeitslosen Akademikern aus dem Osten überschwemmt, da gab es nichts für mich“, sagt er. Aber seine Frau, die auch im Kombinat arbeitete, und er bekamen eine Abfindung. Davon und vom Ersparten haben sie sich das kleine Haus in Felchow gekauft. „Wir wollten einen Landsitz haben“, sagt Dietrich Pavel und lacht. „Und er brauchte eine Beschäftigung, ’ne Arbeitsbeschaffungsmaßnahme“, schiebt Frau Pavel nach. Sie hat sich mit an den Tisch gesetzt. „Das Haus musste saniert werden, da hatte er erst einmal etwas zu tun“, sagt sie mit einem kleinen Seitenblick auf ihren Mann. Der sitzt auf seinem Stuhl und macht ein Gesicht, so als würde er alles lieber selbst erzählen. Frau Pavel redet weiter: „Dann war das Haus fertig und er hat nach einer neuen Betätigung gesucht. So ist das mit dem Dorfverein und mit der Orgel gekommen.“ Doch dazu später mehr, denn der Kaffee ist ausgetrunken und Dietrich Pavel sagt: „So, jetzt zeige ich Ihnen mal das gute Stück.“

Eine Wagner-Orgel ist etwas ganz Besonderes. Zumindest in so einem kleinen Dorf wie Felchow. Joachim Wagner war ein bekannter Orgelbauer im 18. Jahrhundert. Der „Silbermann der Mark Brandenburg“ wurde er genannt. Bis nach Schweden wurden seine Kirchenorgeln damals geliefert. Die große Orgel in der Berliner St. Marien Kirche, die beim Fernsehturm, ist auch von ihm. Im Jahr 1745 baute er eine Orgel für eine kleine Kirche in einem Dorf namens Felchow.

Auf einem Hügel, schräg gegenüber vom Haus mit den roten Ziegeln, steht die Kirche von Felchow. Es ist eine typische kleine Wehrkirche. Sehr stämmig gebaut, aus dicken Feldsteinen, mit quadratischem Turm. Über 750 Jahre ist sie alt. Dietrich Pavel öffnet das gusseiserne Tor und geht über den kleinen Friedhof. Mit einem riesigen Eisenschlüssel schließt er die Holztür auf. Die Decke ist aus hellem Holz und wird von dicken, alten Balken gestützt.

Durch die bunten Bleiglasfenster fällt schwummriges Licht. Eine winzige Treppe windet sich hoch zu einer winzigen Kanzel und gegenüber, am anderen Ende des Kichenraumes, oben auf dem Balkon, da steht sie: Die Felchower Wagner-Orgel. Die ist – war ja klar – auch ziemlich klein. Sie hält einen Rekord, nämlich den der kleinsten erhaltenen Wagner-Orgel. Sehr barock sieht sie aus, mit den silbernen Pfeifen, allerlei Ornamenten, geschwungenen Verzierungen, die immer wieder in Blüten- oder Knospenformen enden. Links und rechts auf dem Dach der Orgel sitzen zwei feiste Barock-Engelchen mit Posaunen in den Händen. In der Mitte zwischen den Engeln ist ein Stern angebracht, der aussieht, als wäre er aus vergoldetem Stroh gemacht. Dietrich Pavel verweilt einen Moment. Er verschränkt die Hände auf dem Rücken, beugt sich ein wenig zurück und betrachtet die Orgel auf dem Balkon. Er sieht lustig aus, so zurückgebeugt mit seiner großen Fellmütze auf dem Kopf. „Hübsch, oder?“, fragt er. Ja, sehr hübsch. Dietrich Pavel gibt sich einen Ruck: „Los, wir gehen mal hoch.“

Oben auf dem Balkon angekommen, dreht Pavel einen Schalter, der das elektrische Gebläse einschaltet. „Das ist nicht original“, sagt er und grinst. Früher musste jemand einen Blasebalg betätigen, damit die Orgelpfeifen pfeifen konnten. Dietrich Pavel öffnet eine Tür an der Seite der Orgel. Dahinter sind die Register und die Klaviatur. Die großen Tasten sind schwarz, die kleinen weiß, anders als beim Klavier. Seit 260 Jahren werden sie von Organisten gedrückt, uneben sind sie, rissig, abgenutzt. Dietrich Pavel zieht einige Register. Die Orgel gibt ein paar unmotivierte Pfeiftöne von sich. „Ah, Heuler! Das ist nicht gut“, schimpft Pavel. Er drückt ein paar Tasten. Dann traut er sich und spielt eine kleine Weise. Hell und klar hallt die Melodie durchs Kirchenschiff. Wagner-Orgeln zeichnen sich durch genau diesen Klang aus, erklärt Dietrich Pavel, während er noch ein bisschen spielt. Dann zieht er das Bassregister und drückt auf eine Fußtaste. Bruuumm, bruumm macht die Orgel und man kann sie nicht nur hören – sondern auch fühlen.

Günther Berger wohnt im Haus neben den Pavels und ist Vorsitzender des Dorfgemeinschaftsvereins Felchow. Den Posten hat er vor zwei Jahren von Dietrich Pavel übernommen. Von Beruf ist Berger eigentlich Molkereiingenieur. Das war früher ein ganz typischer Beruf im Osten auf dem Lande. Jetzt hat er eine kleine Firma, ist selbstständiger Zeitarbeiter. Das ist heute ein ganz typischer Beruf im Osten auf dem Lande. Bergers Händedruck ist fest, die Handflächen sind rau. Auch bei ihm gibt es Kaffee türkisch. Diesmal jedoch mit doppelt so viel Kaffeepulver in einer halb so großen Tasse. „Ist da zu viel Pulver drin?“, fragt Günther Berger bevor er Wasser aufgießt. Nein, nein. „Na jut“, sagt er. „Ich will ja nicht, dass Sie mir hier umkippen.“ Berger erzählt: „Nach der Wende ist hier alles den Bach runter gegangen. Erst die Gaststätte, dann der Dorfladen, das Hotel hat auch zugemacht. Man hatte gar nichts mehr, wo man hingehen konnte.“ Und dann kam Dietrich Pavel, frisch zugezogen, auf die Idee, einen Dorfverein zu gründen. Um Feste, Konzerte und Vorträge zu organisieren. Um Leben ins Dorf zu bringen. „Heute ist der Verein der Motor des Dorfes“, sagt Günther Berger. „Wenn’s um Felchow geht, kann Dietrich sehr energisch und stur sein. Sollte er irgendwann nicht mehr können, dann geht uns echt was verloren.“

So wie vorher mit dem Dorfverein, sei es jetzt mit der Orgel, erzählt Berger weiter. „Dietrich hat ja überhaupt erst gesehen, dass die so wertvoll ist, das hat hier keiner gewusst.“ Inzwischen sei die Felchower Orgel ein Identifikationsfaktor für das ganze Dorf. „Es gibt sogar Touristengruppen aus Berlin, die vorbeikommen, nur um sich die Orgel anzuschauen“, sagt Günther Berger stolz und ein wenig verwundert. Was ist der Herr Pavel eigentlich für ein Typ? Günther Berger: „Dietrich ist sehr umgänglich und hilfsbereit.“ Aha. „Ja, das ist wichtig hier auf’m Dorf.“ Also alles eitel Sonnenschein? „Naja, zum Beispiel seine Vorliebe für schwere Musik geht einigen schon auf den Keks.“ Günther Berger lacht: „Also, so ein Feierer ist er nicht. Wenn bei uns zum Beispiel Silvestertanz ist, dann kommt er nicht. Da setzt er sich lieber zuhause in den Sessel, Kopfhörer auf und ein gutes Buch. Das ist Dietrich Pavel.“

Der Dorfpfarrer heißt Gunther Ehrlich. Er redet viel. Und er redet laut, manchmal brüllt er fast, lacht schallend und dann haut er mit der flachen Hand auf den Tisch. Bumm. Er ist ein Dorfpfarrer wie aus dem Bilderbuch, mit Vollbart, Herz und Seele. Laut und viel reden ist sein täglich Brot. Die Kirche in Felchow und auch ihre Orgel gehören zu seinem Pfarramt. Insgesamt betreut er neun Gemeinden. Moment mal, neun Gemeinden? Heißt das, jeden Sonntag neun Gottesdienste abhalten? „Nein, natürlich nicht“, sagt Pfarrer Ehrlich und lehnt sich zurück. „Ich mache jeden Sonntag drei Gottesdienste und das geht dann immer reihum.“ Nur Feiertage seien schwierig, weil dann möglichst überall was los sein sollte, sagt er. „Heiligabend ist die blanke Katastrophe.“

Ohne Ehrenamt würde hier gar nichts mehr gehen, Pfarrer Ehrlich sagt das mit Überzeugung. Menschen wie Dietrich Pavel seien sehr wichtig. „Allein, dass er es geschafft hat, den Leuten in Felchow klarzumachen, was für einen Kunstschatz sie in ihrem kleinen Dorf haben. Dass sie begreifen: Wir haben doch etwas, worauf wir stolz sein können. Das ist unbezahlbar.“ Es sei wichtig, Orte und Anlässe zu schaffen, an denen die Leute etwas zusammen machen, sagt Pfarrer Ehrlich. Er lehnt sich nach vorn: „Man kann ja nicht alles dem Fernsehen überlassen!“ Das ist so ein Satz bei dem er fast brüllt, danach laut lacht und dann haut er mit der flachen Hand auf den Tisch. Bumm. „Dietrich Pavel ist ja Atheist“, sagt Gunther Ehrlich plötzlich. Ist das ein Problem für ihn als Pfarrer? „Überhaupt nicht, es ist sogar ganz hilfreich.“ Warum? „Weil es zeigt, dass es ein öffentliches Interesse am Erhalt der Orgel gibt und nicht nur ein kirchliches“, erklärt er. Das sei bei manchen Geldgebern sehr wichtig. Aber einmal, da war Dietrich Pavels Atheismus doch ein Problem für ihn. Er erzählt eine kleine Geschichte: Einmal sei ein Fernsehteam wegen der Orgel da gewesen. Die Fernsehleute hätten Dietrich Pavel in der Kirche interviewt und ihm eine Frage zum Taufengel gestellt. „Und dann steht er vor dem Altar und sagt: Ach dazu kann ich gar nichts sagen, ich bin ja Atheist und das ist auch richtig und gut und so weiter.“ Ehrlich prustet los: „Also eigentlich ist die Kirche ein Ort, wo für den Glauben propagiert werden soll und nicht dagegen!“ Bumm. „Na, aber so ist er halt, unser Herr Pavel.“ Ja, so ist er wohl.

Nervt Pavel manchmal? „Ja.“ Die Antwort kam schnell. „Ja, seine Beharrlichkeit nervt. Wenn der sich etwas in den Kopf gesetzt hat, kriegen Sie ihn nicht mehr abgewimmelt“, erzählt der Pfarrer. Aber eins habe er gelernt. „Solche Leute gibt es in allen Initiativen. Und sie sind sehr wichtig – die erreichen nämlich viel. Und wenn sie andere solange bedrängen, dass die einer Spendenbitte nur nachkommen, um Ruhe zu haben.“ Der Pfarrer lacht. Bumm.

Inzwischen ist es dunkel geworden in Felchow. Also schnell wieder hinüber in das Haus mit den roten Ziegeln, in dem die Pavels wohnen. Die schauen gerade die Nachrichten im Fernsehen, gleich gibt es Abendbrot. Bei Schnittchen, belegt mit Salami, Käse, Gurke, Ei und selbst gemachtem Johannisbeersaft, erzählt Dietrich Pavel, wie das mit der Orgel kam: „Als ich die Orgel zum ersten Mal sah und merkte, was für ein Kunstschatz da steht, hab’ ich gedacht – es muss was passieren“, erinnert er sich. „Vielen Leuten hier war das aber schnurzpiepegal.“ Er macht eine Pause und schaut trotzig durch seine Brillengläser. In seinem Blick steht, was er da wohl gedacht haben mag: Ist mir doch schnurzpiepegal, dass euch das schnurzpiepegal ist. „Die Orgel ist ein wertvoller Kunstschatz und der muss erhalten werden.“ Warum? Pavel wird unruhig. Die Frage verwirrt ihn. „Warum? Warum erhält man ein altes Schloss?“ Ja, warum? „Weil es ein wertvolles Kulturgut ist!“, ruft Dietrich Pavel. Warum noch? „Hm, abgesehen davon, dass ich Orgelmusik liebe …“, sagt er etwas versonnen. „Aber das ist subjektiv.“ Er setzt wieder an: „Rein objektiv gesehen ist es eben ein …“. Nein, Herr Pavel, sagen Sie es mal ganz subjektiv: Was bedeutet Ihnen diese Orgel? „Naja, sie ist ein Instrument, auf dem Musik gespielt werden kann, die ich gern höre.“ Pause. Sie ist etwas Schönes, oder? „Ja“, sagt Dietrich Pavel mit tiefem Bass in der Stimme, vollkommen überzeugend. Er mag schöne Sachen, der Dietrich Pavel. Und er ist ein Überzeugungstäter. Der hinterfragt das gar nicht. Der macht einfach das Richtige. Das was sich gehört. Die Orgel retten oder das Dorf. Das nervt manchmal. Aber so ist der Pavel halt.

Dr. Dietrich Pavel

Dr. Dietrich Pavel, Jahrgang 1934, ist Initiator der Interessengemeinschaft Wagner-Orgel Felchow, in einem Dorf in der Uckermark. Die Initiative kämpft für die Restaurierung der über 260 Jahre alten Barock-Orgel. Dafür müssen etwa 150.000 Euro aufgebracht werden. Die Interessengemeinschaft und die Evangelische Kirchengemeinde wollen mit Spenden und Benefizkonzerten den nötigen Eigenanteil von etwa 30% aufbringen. Dietrich Pavel, der lange Jahre in der chemischen Forschung in Schwedt (Oder) gearbeitet hat, ist Gründungsmitglied und erster Vorsitzender des Dorfgemeinschaftsvereins Felchow und Mitglied im Theaterförderverein in Schwedt (Oder). Sein großes Interesse für Kultur, Historie, besonders aber für alte Musik und sein langjähriges ehrenamtliches Engagement machen ihn zu einem wichtigen Mitglied in der kleinen Gemeinde zwischen Angermünde und Schwedt (Oder).

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