Der Bitprof spricht zur Ikonografie unserer Zeit (Achtung: mit französischem Philosophen!)
Hallo Rockstar Games! Ich wünsche dir, dass du viele Millionen mit »GTA IV« verdienst, damit die bösen Männer in den grauen Anzügen, die Spieleeindampfer von Electronic Arts, Microsoft und Co., nicht kommen, dich aufkaufen und deine Spiele kaputt machen. Ich wünsche uns allen, dass GTA das bleibt, wozu es sich jetzt nun endgültig entwickelt hat: ein spielbarer Gangster-Roman, eine beißende Satire, ein Oscar-würdiges Drama, so lebendig und lebensnah, so motivierend, witzig, frei und chaotisch, so voll von Träumen – ein Kronjuwel der Kultur, die mithilfe der Erzählung und des Bildes Parallelwelten baut, Realität verdichtet.
Vor etwa sechs Jahren, kurz vor dem Start von »GTA III« im Jahr 2002, sagte Rockstar-Chef Dan Houser in einem Interview mit der New York Times: »Videospiele sind jetzt an dem Punkt, wo das Kino Ende der 1920er Jahre war, als der Tonfilm eingeführt wurde. Die Produktionstechnik ist ausgereift, nun geht es darum, die technischen Möglichkeiten mit Inhalten zu füllen.«
Genau daran arbeitet Rockstar seitdem. Nicht nur mit der GTA-Reihe, sondern auch mit Perlen wie dem dunklen Drama um den schwer depressiven Detektiv Max Payne oder der Geschichte vom ewig bockigen 15-jährigen Schulhof-Underdog Jimmy Hopkins (»Canis Canem Edit«).
Der Blockbuster zum Selbermachen, das ist extremer Individualismus, Teilhabenwollen, die Feier des Ich. Hypermoderne nennt der französische Philosoph Gilles Lipovetsky das. Nirgends wird ihr mehr gehuldigt als in dem Open-World-Spiel »GTA IV«. Darum werden damit 310 Millionen $ am ersten Tag umgesetzt. Erwin Panofsky, einer der bedeutendsten Kunsthistoriker des 20. Jahrhunderts, sagte in den 1950er Jahren einen sehr klugen Satz: »Das Kino ist das Äquivalent der gotischen Kathedralen.« Heute, hier und jetzt heißt es: Sorry Kino, deine Zeit geht vorbei. Dr. Videospiel übernimmt die Praxis.
Andreas Raabe
erschienen im kreuzer 06.2008